marketSTEEL im Interview mit Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl
marketSTEEL: Wie entwickelt sich nach Ihrer heutigen Beobachtung die deutsche Stahlindustrie?
Wir befinden uns zu Beginn des neuen Jahrzehnts in einer Phase, in der die Stahlindustrie in Deutschland, wie selten zuvor, mit zahlreichen komplexen politischen Themen konfrontiert ist. Zum einen verzerrt unfairer Handel und ein wachsender Protektionismus den internationalen Wettbewerb. Nach wie vor existieren weltweit Überkapazitäten in einer Größenordnung von mehreren hundert Millionen Tonnen. Zum anderen befindet sich die Branche in einem außerordentlich herausfordernden konjunkturellen Umfeld, das sich auch 2020 nicht durchgreifend verbessern wird. Vor diesem Hintergrund findet nun eine Debatte statt, wie die Wirtschaft bis 2050 klimaneutral aufgestellt werden kann.
marketSTEEL: Wird sich diese Entwicklung in den nächsten 5 Jahren gravierend aus Ihrer Sicht verändern? Und gegebenenfalls wie?
Wie sich die Stahlindustrie in Deutschland in den kommenden Jahren entwickeln wird, ist in hohem Maße von politischen Rahmenbedingungen abhängig. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Handelspolitik als auch für Energie- und Klimapolitik. Es muss unter anderem die Frage beantwortet werden, wie der EU-Stahlmarkt wirkungsvoll vor Handelsumlenkungen als Folge des US-Protektionismus im Stahlbereich geschützt werden kann. Die von der EU bereitgestellten Schutzklauselmaßnahmen, die sogenannten Safeguards, gewähren bisher keinen ausreichenden Schutz. Daher muss es dringend eine erneute Revision geben. Es muss auch eine Lösung für die Zeit nach dem Auslaufen der Maßnahmen Mitte 2021 geben. Die Safeguards können dann nicht mehr verlängert werden.
Eine andere zentrale Frage, die beantwortet werden muss, ist, wie eine Abwanderung der industriellen Wertschöpfungsketten in andere Regionen der Welt mit einer weniger restriktiven Energie- und Klimapolitik verhindert werden kann. Dies ist eine Grundvoraussetzung, damit der Weg in die CO2-neutrale Stahlproduktion gelingt. Es kann weder politisch noch gesellschaftlich gewollt sein, dass die Dekarbonisierung Europas dadurch erreicht wird, dass die inländische Produktion durch Importe ersetzt werden, die mit einer deutlich höheren CO2-Belastung verbunden sind. Abhilfe schaffen können hier zuvorderst eine ausreichende Ausstattung mit CO2-Zertifikaten der Stahlunternehmen und eine vollumfassende Strompreiskompensation im Rahmen des EU-Emissionsrechtehandels. Zudem darf auf nationaler Ebene der Kohleausstieg nicht zu Mehrkosten für die Verbraucher führen. Daher setzen wir uns für eine verbindliche Regelung im Kohleausstiegsgesetz ein. Eine solche fehlt bisher. Generell müssen die Maßnahmen der Energie- und Klimapolitik so ausgestaltet sein, dass sie nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie gefährden.
marketSTEEL: Die Stahlindustrie in Deutschland steht vor gravierenden Veränderungen. Welche politischen Rahmenbedingungen würden Sie sich wünschen? / Stichwort CO2-arme Stahlproduktion. Schaffen dies die Stahlunternehmen alleine?
Die Stahlindustrie steht für rund 58 Mio. t CO2-Ausstoß im Jahr, das sind 30 Prozent der gesamten Emissionen der Industrie in Deutschland. Die Unternehmen sind sich der Verantwortung, die damit einhergeht, bewusst. Daher haben sie bereits vielfältige Konzepte für Wege in eine klimaneutrale Stahlproduktion entwickelt. Sie können diese aber nicht alleine umsetzen. Es braucht einen begleitenden, kohärenten politischen Rahmen. Notwendig sind vor allem gezielte Anreize für eine Transformation der Produktion. Dies umfasst etwa die Frage, wie ein Markt für CO2-armen Primärstahl, der mit signifikant höheren Betriebskosten verbunden ist, ohne sich chemisch von herkömmlichem Stahl zu unterscheiden, geschaffen werden kann. Darüber hinaus müssen Themen wie Investitionsförderung, die Schaffung eines energiewirtschaftlichen Rahmens und die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit adressiert werden. Zudem müssen die Vorteile des Werkstoffs Stahl als Schlüsselwerkstoff der Circular Economy viel stärker genutzt werden, etwa durch eine verstärkte Ausrichtung der öffentlichen Beschaffung auf kreislauforientierte und klimaneutrale Produkte.
marketSTEEL: Wie schätzen Sie die globale Entwicklung der Stahlindustrie für 2020 ein?
Weltweit erwarten wir keine große Dynamik. Denn die globalen Handelsstreitigkeiten sind weiter ungelöst und weltweit bestehen vielfältige Risiken für die Konjunktur. Dies alles drückt auf die Investitionsbereitschaft. Zudem schwächt sich auch die Stahlnachfrage in China, ausgehend vom Immobilienmarkt ab. Unter dem Strich aber wird wohl ein moderates Wachstum stehen.
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Fotos: marketSTEEL