2022 wird die Zukunft der europäischen Stahlindustrie entschieden

Die Stahlbranche fordert schnelle Hilfe von der Politik. Die Umstellung auf Wasserstoff würde die Produktionskosten um 70 Prozent erhöhen – und etwa ein Mittelklasseauto bis zu 1000 Euro teurer machen.

Die Stahlindustrie drängt auf Investitionssicherheit auf dem Weg zum grünen Stahl. „Die politischen Rahmenbedingungen für milliardenschwere Investitionen müssen erst noch geschaffen werden“, sagte Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, auf der Handelsblatt-Jahrestagung „Zukunft Stahl“.

Die Branche habe einen „wirkungsvollen Hebel zur CO2-Reduktion“, sagte Kerkhoff. Die Zeit dränge aber. „Wir brauchen mehr Tempo.“ Notwendig sei „eine staatliche Flankierung für die Investitionen in CO2-arme Verfahren, die heute noch nicht wirtschaftlich sind“.

Auch Geert Van Poelvoorde, CEO von Arcelor Mittal Europe, warnte: „2022 wird entschieden, wie groß oder wie klein die europäische Stahlindustrie in Zukunft sein wird.“ Die bisherigen Pläne in Brüssel reichten nicht aus, um die Zukunftsfähigkeit der Branche zu sichern.

Grüner Stahl, der mit Wasserstoff statt Kohlenstoff hergestellt wird, ist derzeit in der Branche das große Thema. Denn die Stahlbranche steht für 30 Prozent der Industrieemissionen in Deutschland. Will Deutschland seine Klimaziele erreichen, muss laut Experten bis 2030 etwa ein Drittel der Primärstahlproduktion auf die Direktreduktionstechnologie mit Wasserstoff umgestellt werden, bis 2045 müssten alle Hochöfen ersetzt werden.

Bernhard Osburg, Vorstandschef von Thyssen-Krupp Steel Europe, betonte: „Die Stahlindustrie kann jetzt Geschichte schreiben.“ Die Branche könne der „Nukleus einer dekarbonisierten europäischen Wirtschaft“ sein. Allerdings stehe die Stahlindustrie im harten internationalen Wettbewerb. „Jeder Monat, der vergeht, schadet der Wettbewerbsfähigkeit.“

Das Problem: Der grüne Stahl ist teurer als konventionell produzierter. Laut einer neuen Studie von BCG, die dem Handelsblatt vorliegt, würden die Kosten pro Tonne Stahl bei Umstellung auf das Wasserstoffverfahren bis 2030 um etwa 70 Prozent steigen. Das entspricht einem Plus von etwa 260 Euro pro Tonne.

Höhere Preise für grünen Stahl

Damit würde sich der Preis eines Mittelklasseautos bei Verwendung von ausschließlich grünem Stahl den Berechnungen zufolge um knapp 250 Euro erhöhen, wenn die gestiegenen Kosten direkt umgelegt werden. Bei einer Waschmaschine wären es weniger als zwölf Euro.

Die Experten von Accenture gehen von 500 bis 1000 Euro beim Auto und etwa 30 Euro bei der Waschmaschine aus. Die Unternehmen müssten herausfinden, wie sie über die Vermarktung diese zusätzlichen Preise erzielen können, sagte Gerd-Michael Hüsken, Managing Director von Accenture.

Die Stahlhersteller könnten zudem in Kooperation mit den Kunden zum Beispiel in der Autoindustrie neue Produkte entwickeln, sagte Götz Erhardt von Accenture. Da habe die Branche in den vergangenen Jahren schon viel gemacht. „Nachhaltigkeit und Klimaschutz bieten Chancen, sich weiter zu differenzieren.“

Viele Hersteller haben entsprechend große Ziele verkündet. So soll die Stahlproduktion von Thyssen-Krupp bis 2045 klimaneutral sein. Die notwendigen Investitionen liegen für die Branche aber allein in Deutschland im zweistelligen Milliardenbereich.

Daher warten die Unternehmen auf den Startschuss der Politik für eine großflächige Förderung. Aus der Bundesregierung gibt es entsprechende Signale. Die Koalitionspartner hätten sich darauf verständigt, „dass das, was gebraucht wird, auch finanziert wird“, hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck beim Energie-Gipfel des Handelsblatts im Januar gesagt.

Doch auch Brüssel sei gefragt, so Kerkhoff. „Deutschland kann den Weg nur in Europa und mit Europa gehen.“ Durch die geplante Überarbeitung des europäischen Emissionshandels drohten der deutschen Stahlindustrie Mehrkosten von bis zu 16 Milliarden Euro bis 2030.


Auch Osburg von Thyssen-Krupp appellierte an Brüssel. Die geplante Reduktion der kostenlosen Zertifikate sei nicht zu stemmen, wenn gleichzeitig Milliarden in die Transformation investiert werden müssen. „Stahl ist eine absolut systemrelevante Branche und eignet sich schon daher nicht für Experimente.“

Branche will Stahlproduktion in Deutschland halten

Der saarländische Wirtschaftsstaatssekretär Jürgen Barke sagte, auch für die Betriebskosten brauche es Unterstützung. Es müsse verhindert werden, dass die Produktion an andere Standorte verlagert werde. Dabei gehe es nicht nur um den Kampf gegen den Klimawandel. Die Coronapandemie habe gezeigt, wie wichtig es ist, auch bei den Grundstoffen nicht von Dritten abhängig zu sein.

Die Unternehmen treiben das Thema unterdessen voran. Thyssen-Krupp gab in dieser Woche den Startschuss für ein Reallabor am Standort Duisburg. Geplant sind der Bau einer Pipeline und die Ausweitung des Wasserstoffeinsatzes auf den gesamten Hochofen 9.

Thyssen-Krupp war einer der Vorreiter in der Branche. Der Konzern hatte 2019 als erstes Unternehmen weltweit in Duisburg Wasserstoff in einen laufenden Hochofen eingeblasen. Der Wasserstoff ersetzt dabei Kohlenstaub als zusätzliches Reduktionsmittel.

Schon früh auf die Produktion von CO2-armen Stahl in Elektrolichtbogenöfen setzte die Georgsmarienhütte. Der größte Hebel, um die Zahlen weiter zu drücken, sei der Ausbau der Erneuerbaren, sagte CEO Alexander Becker. „Wir wünschen uns wirklich, dass die neue Bundesregierung mutig und kraftvoll alles daransetzt, ihre Ziele zu erreichen.“

Im vergangenen Jahr war die Produktion von Rohstahl in Deutschland erstmals seit drei Jahren wieder gestiegen – um zwölf Prozent auf gut 40 Millionen Tonnen. Allerdings liegen die Hersteller damit immer noch unter dem Niveau von 2017 (gut 43 Millionen Tonnen).

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