Am Jahresende 2022 haben die Stahlpreise am Spotmarkt ein Niveau erreicht, das Stahleinkäufer im Frühjahr mehr erhoffen als erwarten konnten. Stahl ist immer noch nicht billig, aber wieder zu realistischen Bewertungen zurückgekehrt. Ist damit eine neue Phase der Stabilität eingeleitet oder handelt es lediglich um eine kurze Ruhephase, bevor wieder neue Stürme aufbrausen? Manche Marktteilnehmer trauen dem Frieden nicht. Die Versorgungskrise 2020/2021 sitzt tief in den Köpfen fest. Obwohl es manche Parallelen dazu gibt, ist eine Wiederholung der damaligen Entwicklung nicht wahrscheinlich.
Ähnlich wie zur Jahresmitte 2020 hat der Stahlmarkt eine längere Phase mit einem ausgeprägten Bestandsabbau und stark fallenden Preisen hinter sich. Ähnlich wie damals haben die EU-Stahlerzeuger darauf mit Produktionsrücknahmen reagiert. Und ähnlich wie damals könnte sich manches Konjunkturszenario als zu pessimistisch erweisen. In den vergangenen Monaten blieb die Industrieproduktion insgesamt robuster als es noch im Frühherbst vielfach befürchtet worden war. 2022 dürfte fast genau das Niveau des Vorjahres erreicht worden sein, im November wurde sogar der zweithöchste Wert des Jahres erzielt. Die kurzfristigen konjunkturellen Folgen der Energiekrise sind bisher weniger dramatisch als es zunächst den Anschein hate.
Zumindest der Preistrend bei Flachprodukten hat sich im Dezember gedreht und weist derzeit nach oben. Der Ausblick auf das Jahr 2023 ist von großer Unsicherheit vor allem beim Blick auf die Nachfrageentwicklung geprägt. Es werden ganz unterschiedliche Szenarien gehandelt. Manche Stahleinkäufer befürchten aufgrund der Parallelen, dass Stahl wieder knapp werden könnte.
Aber es gibt Unterschiede zum Jahr 2020. Ein Unterschied liegt im Ausmaß der Produktionskürzungen. Die hochofenbasierte Oxygenstahlerzeugung erreichte im Jahr 2020 in Deutschland den tiefsten Stand im Juni bei gut 1,5 Mio. Tonnen. Das Jahrestief 2022 lag im November deutlich höher bei knapp 2,0 Mio. Tonnen. In Deutschland sind kaum Hochöfen außer Betrieb gesetzt worden, so dass eine Produktionserhöhung bei Bedarf schneller als vor zwei Jahren möglich wäre. Elektrostahlwerke können ihre Erzeugung ohnehin flexibel anpassen. Zudem dürfte auch das Importangebot im Jahr 2023 deutlich höher bleiben als vor zwei Jahren.
Auf der Nachfrageseite haben in den vergangenen Monaten zweifellos Bestandseffekte die dominierende Rolle gespielt. Die Stahlbestellungen liegen seit April 2022 ungewöhnlich weit unter der Industrieproduktion. Offenbar hatte nicht nur der Stahlhandel im Frühjahr zu hohe Bestände aufgebaut. Auch die Industrie hat über Monate in großem Maßstab auf vorhandene Bestände zurückgegriffen.
Nun lautet die Frage, in welchem Umfang es wieder zu Lagerergänzungen kommen wird. Schließlich war ein von Lagereffekten getriebener steiler Nachfrageanstieg der Auslöser für die im 2. Halbjahr 2020 beginnende Versorgungskrise, die dann 2021 voll eskalierte.
Die Wiederholung dieser Entwicklung ist wenig wahrscheinlich.
Der Bestandabbau scheint zwar noch nicht bei allen Unternehmen vollständig abgeschlossen. Er ist aber in den vergangenen Monaten ein großes Stück vorangekommen. Daher ist nun eine stärkere Annäherung der Stahlbestellungen an den tatsächlichen Bedarf wahrscheinlich. Dieser zeigte sich zuletzt robust. Angesichts der noch hohen Auftragsbestände in weiten Teilen der Industrie dürfte dies zunächst so bleiben. Am schwierigsten ist die Lage in der Bauwirtschaft und dort insbesondere beim Wohnungsbau. Dies trifft vor allem die Nachfrage nach baunahen Langprodukten.
Damit liegt es nahe, dass die Stahlbestellungen im 1. Quartal anziehen werden. Dies gilt umso mehr, als der Tiefpunkt der Spotmarktpreise erreicht scheint, so dass taktische Käufe zum realen Bedarf hinzukommen werden.
Ein sehr steiler Anstieg der lagergetriebenen Nachfrage, dürfte aber aus mehreren Gründen ausbleiben.
Die Bedarfsaussichten sind weiterhin mit vielen Unsicherheiten behaftet. So ist der Auftragseingang der Automobilindustrie seit Monaten stark rückläufig. Zusammen mit verhaltenen Prognosen für den globalen PKW-Markt könnte dies dazu führen, dass sich die Lage der Branche nach Abarbeitung der Altaufträge spürbar verschlechtert. Auch andere Stahlabnehmerbranchen zehren derzeit in hohem Maße von Altaufträgen. Die für viele Regionen der Welt nur schwachen Konjunkturerwartungen sind in der exportorientierten deutschen Industrie noch nicht richtig angekommen. Dazu kommen die mittelfristigen Auswirkungen der europäischen Energiekrise, die die Unternehmen im globalen Wettbewerb zurückwirft, und der wieder steigende Euro. Zahlreiche politische Unsicherheiten wie der Fortgang des Kriegs in der Ukraine, die Corona-Pandemie in China und die Taiwan-Frage wirken zusätzlich dämpfend.
Zusammen mit gestiegenen Finanzierungskosten und einer in vielen Unternehmen angespannten Liquiditätslage sollte dies dazu führen, dass der Lageraufbau am Jahresanfang schwächer als üblich ausfällt. Damit ist eine neue Versorgungskrise wenig wahrscheinlich, auch wenn sie nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Mit wieder längeren Lieferzeiten und Engpässen bei einzelnen Spezifikationen muss dagegen gerechnet werden.
Eine wieder besser Stahlnachfrage, die reduzierte EU-Erzeugung, höhere Rohstoffkosten und ein schwächerer Importdruck dürften in den kommenden Wochen zwar vor allem bei Flachstahl zu höheren Spotmarktpreisen führen. Bei den im Elektroofen hergestellten Langprodukten spielt die weitere Entwicklung der Strompreise eine große Rolle, so dass der Trend weniger klar ist.
Es wäre eine riesengroße Überraschung, wenn die Stahlpreise im Frühjahr auch nur annähernd in die Spitzenpreise der Jahre 2021 und 2022 erreichen würden. Bei allen Unsicherheiten sei zudem die Prognose gewagt, dass im Jahresmittel 2023 die Preise spürbar unter dem Niveau des Jahres 2022 liegen werden.
von Dagmar Dieterle
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult.
Foto: StahlmarktConsult und Fotolia
Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.