Am europäischen Stahlmarkt ist in den vergangenen Wochen eine Diskussion über eine von der Stahlindustrie geforderte drastische Verschärfung der geltenden EU-Schutzmaßnahmen gegen Stahleinfuhren aufgekommen. Begründet wird diese mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Ruft man sich in Erinnerung, wozu Schutzmaßnahmen eigentlich gedacht sind, wird deutlich: die Forderungen der Stahlindustrie haben jedes vernünftige Maß verloren. Das Instrument der Schutzmaßnahmen wird mehr und mehr umfunktioniert. Dass die EU-Kommission dieses Spiel offenbar mitspielt, zeigt, dass es bei den Schutzmaßnahmen sehr viel um Politik, aber nicht mehr um ein regelbasiertes Handelssystem geht.
Anfang April wurde ein Schreiben des europäischen Verbandes der Stahlindustrie, Eurofer, an die EU-Kommission bekannt. Darin wird eine drastische Verschärfung der seit 2018 geltenden „Schutzmaßnahmen“ der EU gegen Stahleinfuhren aus Drittländern gefordert. Die praktisch für alle Stahlerzeugnisse geltenden zollfreien Importkontingente sollen kurzfristig um 75% reduziert werden. Oberhalb der Kontingente soll ein Importzoll von etwas weniger als 25% fällig werden. Weiterhin wird gefordert, die Übertragbarkeit der in einem Quartal nicht genutzten Kontingentmengen auf das Folgequartal zu unterbinden und die höchstmöglichen Lieferanteile einzelner Herkunftsländer weiter zu beschränken. Als Begründung wird angeführt, dass die Nachfrage am europäischen Stahlmarkt infolge der Corona-Pandemie drastisch gesunken sei. Zudem drohe der EU ein neuerlicher Importanstieg.
Wie war das nochmal mit den Schutzmaßnahmen?
Bei den Schutzmaßnahmen (safeguards) handelt es sich um ein außerordentlich selten benutztes Instrument der Handelspolitik. Es hat nichts mit der Bekämpfung von unfairem Wettbewerb durch Dumping zu tun. Auf ihrer Webseite bezeichnet die EU-Kommission sie vielmehr, entsprechend den Regeln der Welthandelsorganisation WTO, als Mittel für Situationen, in denen die EU-Industrie von einem unvorhergesehenen, scharfen und plötzlichen Importanstieg betroffen ist. Die importbeschränkenden Maßnahmen sollen dieser Industrie einen vorübergehenden Schutz verschaffen, um sich auf die geänderte Situation einstellen zu können. Die Maßnahmen wurden von der EU 2018 als Reaktion auf die US-Zölle auf Stahleinfuhren eingeführt und mit einer angeblich drohenden „Importflut“ an Stahl begründet. Sie waren zwischen Herstellern, Importeuren und Verwendern heftig umstritten.
Die Schutzmaßnahmen standen rechtlich von Anfang an auf dünnem Eis. Sie waren letztlich getragen vom politischen Willen, sich als EU gegen die US-Zölle zu wehren. Immerhin wurden sie auf eine Art und Weise ausgestaltet, die die schlimmsten Folgen für Verarbeiter und Importeure in der EU verhinderte. In den bisher durchgeführten Überprüfungsverfahren erfolgten leichte Verschärfungen. Bereits zu dieser Zeit verlagerte sich der Fokus immer stärker weg von einer Prüfung der Rechtsgrundlagen hin zu einer erwünschten Wirkung der Schutzmaßnahmen. Mehr und mehr argumentierten Stahlhersteller mit einer angeblich zu schwachen Schutzwirkung oder rückten generell die negativen Folgen von Importen in den Vordergrund. Typische öffentliche Aussagen lauten:
- „Wegen der vielen Importe können wir keinen Gewinn machen.“
- „Die Nachfrage am EU-Markt wird schwächer, die Importkontingente müssen abgesenkt werden.“
- „Aus dem Land X kommen zu viele Importe, die unsere Preise kaputtmachen“.
Diese Argumente mögen aus Sicht der Stahlhersteller alle richtig sein, sie haben nur überhaupt nichts mit dem Wesen der Schutzmaßnahmen zu tun. Diese sind schlicht nicht dazu da, um Marktanteile oder ein bestimmtes Preis-, Erlös- oder Produktionsniveau europäischer Hersteller festzuschreiben. Doch was nur oft genug wiederholt wird, setzt sich irgendwann fest. Das mittlerweile im politischen Raum vielfach so getan wird, als seien Schutzmaßnahmen zur jeglichen Übels da und könnten beliebig angewendet werden, kann durchaus als großer Erfolg einer ausgefeilten Kommunikationsstrategie verstanden werden. Was nur oft genug wiederholt wird, setzt sich irgendwann fest. Es fällt auf fruchtbaren Boden in einer Zeit, in der alle möglichen Regeln so lange gedehnt werden, bis am Ende das als „richtig“ erachtete Ergebnis steht.
Basis für Verschärfung? Fehlanzeige!
Die nun erhobene Forderung, die zollfrei möglichen Mengen auf einen Schlag gleich um 75% zu reduzieren und somit den Importwettbewerb faktisch weitgehend vom EU-Markt auszuschließen, treibt die Umdeutung des Instruments vollends auf die Spitze. Nur am Rande sei angemerkt, dass erneut kaum haltbare Behauptungen, diesmal zu den Folgen der Corona-Krise, eine Legitimation schaffen sollen. Die EU-Stahlnachfrage wird in diesem Jahr zwar deutlich sinken, aber nicht wie behauptet um 50% oder gar 75%. Solche Zahlen, die es im Einzelfall und für kurze Zeiträume geben mag, auf den Gesamtmarkt hochzurechnen, ist einfach nur unseriös.
Um die Diskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen: Die EU-Importe an Flachprodukten lagen 2019 um 10% unter dem Vorjahr und haben den niedrigsten Stand seit 2015 erreicht. Bei Langprodukten lag der Rückgang zum Vorjahr bei mehr als 22%. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 lagen die EU-Walzstahlimporte um 17% unter dem Vorjahr. Die Schutzmaßnahmen haben ihren Zweck erfüllt. Angesichts einer fallenden Gesamtnachfrage ist es ausgeschlossen, dass die EU-Importe im Jahr 2020 über dem Vorjahr liegen werden. Das Handelsvolumen am globalen Stahlmarkt ist in den vergangenen Monaten stark geschrumpft. Kurzum: Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Verschärfung der Schutzmaßnahmen sind eindeutig nicht gegeben.
EU-Kommission fördert Verunsicherung
Das (mutmaßlich) gezielte Bekanntwerden der Eurofer-Forderung und deren öffentliche Unterstützung durch Abgeordnete des Europäischen Parlaments und durch Gewerkschaften sorgt für Verunsicherung im Stahlhandel und in der verarbeitenden Industrie. Fleißig wird spekuliert, wie stark die Verschärfungen ausfallen und wann sie kommen werden. Wer heute Stahl zum Beispiel aus Asien bestellen will, kann nicht sicher sein, ob bei Lieferung in einigen Monaten ein Zoll von 25% fällig wird. So kann man ganz ohne formale Beschlüsse das Importgeschäft aushebeln.
Nur eine deutliche Zurückweisung der Forderungen durch die EU-Kommission hätte diese Unsicherheit beenden können. Stattdessen hat diese sich dafür entschieden, eine bereits seit Februar laufende turnusmäßige Überprüfung der Schutzmaßnahmen nochmals zu öffnen und nun die Auswirkungen der Corona-Krise einzubeziehen. Der Ausgang ist offen, die Hängepartie setzt sich fort. Dies wurde nicht etwa, wie sonst üblich, im EU-Amtsblatt bekannt gegeben. Vielmehr wurde am 30. April ein geschlossener Kreis schon zuvor Beteiligter darüber informiert. Die Frist zur Stellungnahme in diesem komplexen Verfahren betrug faktisch vier Arbeitstage. Ein Schelm, wer sich dabei etwas denkt.
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult.
Foto: StahlmarktConsult, Fotolia
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