Der europäische Stahlmarkt steht derzeit von mehreren Seiten unter Druck: Zum einen belasten weltweite Überkapazitäten, Emissionskosten und teilweise unfairer globaler Handel das Geschäft. Gleichzeitig erwarten zunehmend europa- und weltweit agierende Kunden auf sie zugeschnittene Produkte und Serviceleistungen sowie eine schnelle lokale Unterstützung. Auf dem Expertentreff am ersten Tag der Blechexpo hob Dr. Jens Lauber, Managing Director Distribution Mainland Europe bei Tata Steel, die zentrale Rolle der Stahldistribution als Bindeglied zwischen Hersteller und stahlverbrauchenden Endkunden hervor. Die Branche könne vor diesem Hintergrund maßgeblich zu einem gestärkten europäischen Stahlmarkt beitragen, wenn sie sich ihrer Rolle stärker bewusst wird und diese konsequent ausfüllt.
Pro Jahr gelangen in Europa circa 150 Millionen Tonnen Stahl in die Endkundenmärkte. Davon erreichten laut Lauber in 2015 circa 40% die Kunden auf direktem Weg vom Stahlwerk. Etwa ein Viertel wird über unabhängige und werkseigene Stahl Service Center (SSC) geliefert, die vorrangig Flachprodukte verarbeiten und vertreiben. Sogenannte Multiproduct-Stockholder übernehmen lokal oder überregional mit verschiedenen Geschäftsmodellen und breit angelegtem Produktsortiment im Flach- und Langstahlbereich den restlichen Anteil.
In Europa existieren damit unterschiedliche Geschäftsmodelle mit ihren jeweiligen Vorzügen für die verschiedenen Endkunden. Unabhängige Stahl Service Center differenzieren sich über ihr Produktsortiment verschiedener Stahlhersteller und über ihre spezifische Weiterverarbeitung. Demgegenüber fungieren die herstellereigenen Service Center meist als Bindeglied des Werks zum Kunden, zum einen als Vertriebskanal und zum anderen als Rückkopplungselement vom Markt zum Stahlwerk. SSC mit erweiterter Stahlverarbeitung haben sich auf zusätzliche Anarbeitung und Dienstleistungen spezialisiert und übernehmen weitere Aufgaben in der Wertschöpfungskette, die sonst beispielsweise von der Automobil- oder Bauindustrie selbst übernommen werden. Die Multiproduct-Stockholder legen ihren Schwerpunkt vor allem auf die Lagerung und damit verbundene Serviceleistungen wie kurzfristige Lieferfähigkeit. Neben einigen international agierenden Unternehmen handelt es sich vielerorts um kleinere Unternehmen mit sehr spezifischem Angebot, die regional äußerst erfolgreich sind. Dazu passt der mit 60 Prozent hohe Anteil an Familienbetrieben.
Vielfältige Geschäftsmodelle für möglichst hohen Mehrwert
Diese Aufstellung der Distribution hat sich in Europa entsprechend der Bedürfnisse ihrer Kunden entwickelt, um mit einem differenzierten Angebot und guter Beratung einen möglichst hohen Mehrwert zu bieten. So sind in Märkten wie Frankreich oder Deutschland mit einer starken Ausrichtung auf die Automobilindustrie die Stahl Service Center stark etabliert. Sie begleiten ihre Kunden eng bei der Entwicklung auf sie zugeschnittener Stähle und mit effizienten Lieferkonzepten. In anderen Regionen wie Südeuropa sind viele herstellerunabhängige Stahl Service Center und Stockholder mit breitem Portfolio vertreten, das zu einem großen Teil durch Importe abgedeckt wird. Damit können die dort stärker diversifizierten Abnehmermärkte optimal bedient werden.
Genau diese verschiedenen Geschäftsmodelle mit ihrem spezifischen Angebot an Produkten und Dienstleistungen machen die hohe Leistungsfähigkeit der europäischen Distributionsindustrie aus. Für die Zukunft ist dabei entscheidend, dass die Branche diesen substanziellen Mehrwert nachhaltig profitabel anbieten kann, damit auch die unterschiedlichen Endkundenbranchen langfristig davon profitieren.
Derzeitige Trends verlangen Veränderung
Globale Trends wie der anstehende Paradigmenwechsel in der Automobilindustrie beispielsweise durch Elektromobilität, Überkapazitäten bei Stahl Service Centern sowie neue Modelle zur Digitalisierung und Technologien zur Vernetzung der unternehmensübergreifenden Prozesse führen auch in der Distributionsbranche zu starken Veränderungen. Die aktive Begleitung dieses Wandels bietet aus Sicht von Dr. Jens Lauber für die Distribution die Chance, eine werttreibende Rolle für die komplette Wertschöpfungskette zu übernehmen. Als Bindeglied zwischen Werk und Kunde kann sie durch eine zentrale Vernetzung weitere Optimierungen und neue Serviceleistungen vorantreiben und so einen starken Beitrag und Mehrwert zur globalen Wettbewerbsfähigkeit von Europas Stahlindustrie und der ihrer Kunden leisten.
Tata Steel hat diese wichtige Rolle der Distribution für sich erkannt und begonnen, die lokale Präsenz mit eigenen Stahl Service Centern sowie weiteren Serviceleistungen zu stärken. Durch die europaweite Vernetzung und die Unterstützung durch zentrale Ressourcen wie Forschung und Entwicklung und Technische Services erhalten die Abnehmerindustrien ein noch stärker an ihren Bedürfnissen orientiertes Angebot direkt in ihrer Nähe.
Durch den intensiven Austausch mit den Abnehmern entsteht ein umfassendes Verständnis über die benötigten Eigenschaften der Stähle und deren Einsatzbereiche. Mit diesem ganzheitlichen Blick kann Tata Steel innovative und hochwertige Stahlprodukte und Services entwickeln, die zukünftige Anforderungen noch besser berücksichtigen. Neben der gemeinsamen Produktentwicklung setzt das Unternehmen auch auf eine enge Zusammenarbeit in der gesamten Lieferkette. Hier sorgt eine digitale Vernetzung und individueller Kundenservice für kürzere Durchlaufzeiten und reduzierte Lagerbestände.
Internationale Kunden mit zentraler Produktentwicklung und lokaler Umsetzung in verschiedenen Märkten profitieren außerdem von dem weitverzweigten SSC- und Distributionsnetz. Im Tagesgeschäft vor Ort zu sein, die lokale Sprache der Kunden zu sprechen und letztendlich einen hohen Servicegrad im Tagesgeschäft zu realisieren, schafft am Ende zusammen mit den passenden Produkten den erwünschten langfristigen Mehrwert für alle Beteiligten.
Vortrag von Dr. Jens Lauber, Managing Director Distribution Mainland Europe bei Tata Steel auf dem ExpertenTreff am 07.11.2017 in Stuttgart
Fotos: Tata Steel Europe