Demonstrationen, Brandbriefe, TV-Beiträge, Leitartikel – die Stahlindustrie schreibt derzeit viele Schlagzeilen. Das Wort von der „Stahlkrise“ macht die Runde. Einträchtig machen Unternehmens- und Gewerkschaftsvertreter externe Ursachen für die Probleme verantwortlich: Überkapazitäten, unfairer Wettbewerb und Klimaschutz-Lasten werden in den Vordergrund gerückt. Forderungen nach zusätzlichem Schutz und nach milliardenschwerer Staatshilfe werden laut. Diese Stimmen sind kritisch zu hinterfragen, denn manche Behauptungen gehen an der Realität vorbei. Die aktuellen Probleme sind im Kern das Ergebnis marktwirtschaftlicher Prozesse. Etwas anders sieht es bei den Folgen der politisch gewollten Dekarbonisierung aus, die gerade erst sichtbar werden.
Zweifellos erlebt die deutsche Stahlindustrie gerade eine schwierige Phase. Mangelnde Auslastung, sinkende Preise und wachsender Ertragsdruck kennzeichnen die Situation. Branchenvertreter machen immer wieder in erster Linie unfaire „Billig-Importe“ für die Situation verantwortlich und fordern einen besseren Schutz. Während viele Medien diese Behauptung ungeprüft übernehmen, zeigt ein genauerer Blick, dass das höchstens ein kleiner Teil der Wahrheit ist. Die Ursachen für die aktuelle Situation sind vielfältig und teilweise auch hausgemacht:
- Das größte Problem heißt Nachfrageschwäche
Die mit Abstand wichtigste und zugleich erstaunlich selten genannte Ursache für die aktuellen Probleme ist die aktuelle Nachfrageschwäche am Heimatmarkt, von der Deutschland aufgrund seiner Exportlastigkeit und der großen Bedeutung der Automobilindustrie besonders stark betroffen ist. Die im zweiten Halbjahr 2018 einsetzende Flaute hat (nicht nur) viele Stahlersteller kalt erwischt. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Branche sich in den Wachstumsjahren davor stark auf die Kunden aus der Automobilindustrie fokussiert hat. Dadurch ist eine große Abhängigkeit entstanden, die jetzt voll durchschlägt. Ob wir es jetzt mit einer Konjunktur- oder mit einer Strukturschwäche zu tun haben, ist noch nicht wirklich klar. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem.
- Der Stahlbedarf steigt anderswo, die Wettbewerber werden stärker
Struktureller Art sind in jedem Fall Verschiebungen am Weltmarkt.
Dabei greift der Verweis auf die Überkapazitäten der anderen zu kurz.
Diese bestehen übrigens in der EU laut einer McKinsey Studie aus dem
Jahr 2018 in einem proportional ähnlichen Maß wie in China. Natürlich
gibt es auch in anderen Regionen große Überkapazitäten. Dennoch haben
Stahlunternehmen weltweit noch in den Jahren 2017 und 2018 gutes Geld
verdient. Ein Grund dafür ist, dass die chinesischen Stahlexporte seit
2015 als Folge der umgesetzten Strukturreformen um ca. 40 Mio. Tonnen
gefallen sind.
Aus europäischer Sicht wichtiger sind andere
Weltmarkt-Trends: Das Nachfragewachstum am Stahlmarkt findet vor allem
in Asien statt. Und anders als zum Beispiel die Automobilindustrie oder
der Maschinenbau partizipiert die deutsche Stahlindustrie kaum an diesem
Wachstum, sondern ist stark von gesättigten Märkten abhängig. Dort hat
sie es mit internationalen Wettbewerbern zu tun, die mit modernster
Anlagentechnik und einer steilen Lernkurve frühere Qualitätsnachteile
schnell aufholt. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die
EU-Industrie im weltweiten Vergleich Kostennachteile aufweist. Der
Verweis darauf, dass Wettbewerber oft Staatsgeld im Rücken haben, ist
zwar richtig, trifft aber nicht den Kern. Auch im Wettbewerb mit rein
privat geführten international geführten Konkurrenten fallen hiesige
Unternehmen seit geraumer Zeit zurück.
- Importe: Einfluss nicht so groß wie behauptet
Der
Einfluss der Importe, gerne als „Billig“ oder „Dumping“-Importe
verunglimpft, wird in der öffentlichen Diskussion maßlos übertrieben.
Die Fakten sind andere. Die deutschen Stahlimporte zeigen keine
Anzeichen einer „Schwemme“, sondern schwanken seit Jahren bei leicht
steigender Tendenz weitgehend im Einklang mit der Nachfrage. Die Importe
lagen 2018 um gerade 6% höher als 2015 und der weit überwiegende Anteil
davon kommt aus EU-Ländern. Das erste Nicht-EU-Land liegt auf Platz 8
der Import-Rangliste, liefert 3% der deutschen Importe und heißt
Brasilien. Direkt aus China kamen 2018 ca. 340.000 Tonnen Stahl auf den
deutschen Markt, knapp 50% weniger als noch 2016 und ca. 0,8% des
gesamten Marktvolumens.
Am EU-Markt sind die Einfuhren aus
Drittändern in den vergangenen Jahren zwar klarer gestiegen. Ihre
Marktanteile liegen aber nicht höher als in vielen anderen
Industriebranchen, die damit offenbar besser umgehen können. Bedenkt
man, dass viele Stahlerzeugnisse als internationale Commodity gehandelt
werden, ist die Bedeutung der Importe am EU-Markt erstaunlich niedrig.
Bei Flachprodukten war es 2018 ein Marktanteil von knapp 20%, bei
Langprodukten 12%.
- Klimaschutz-Lasten fangen erst an
Der
Verweis auf die klimapolitischen Lasten der europäischen
Stahlhersteller, die zu Wettbewerbsnachteilen führen, steht im Moment
hoch im Kurs. Dies ist auch in dem Sinne richtig, dass der deutsche bzw.
europäische Weg der Alleingänge tatsächlich zu Lasten führt, die in
anderen Regionen in der Form nicht zu tragen sind.
Richtig sind
aber auch zwei Ergänzungen: diese Lasten sind keine Ursache der
aktuellen Krise, denn sie fangen gerade erst an, schrittweise zu wirken.
Bisher ist die EU-Stahlindustrie an vielen Stellen verschont worden,
etwa durch die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten und verschiedene
Sonderregeln. Und das Bild, der europäische Stahl sei der „sauberste“
der Welt, klingt zwar gut, macht es sich aber zu einfach und entspricht
nicht der Wahrheit. Jede Tonne Stahl aus einem türkischen
Elektro-Stahlwerk hat eine bessere CO2-Bilanz als die Tonne
aus einem deutschen Hochofen. Und in vielen Ländern gibt es
klimapolitische Maßnahmen und Aktivitäten, die die jeweilige
Stahlindustrie treffen.
- Fazit: Auch eigene Antworten finden
Die aktuellen Schwierigkeiten der Stahlindustrie sind in erster Linie
das Ergebnis konjunktureller und struktureller Veränderungen bei
Angebot und Nachfrage in einem sich schnell wandelnden Marktumfeld.
Darauf muss die Stahlindustrie, wie auch andere Branchen, eigene
Antworten finden. Diese werden in einigen Fällen schmerzhaft sein. Der
Ruf nach politischer Unterstützung ist hier kaum gerechtfertigt und
wenig zielführend.
Etwas anders sieht es bei den Folgen der
politisch gewollten Dekarbonisierung aus. Diese kann in der
Stahlindustrie entweder durch die Schließung von Standorten oder durch
einen enorm kostspieligen Umbau der Produktion erreicht werden.
Letzterer wäre für die deutsche Stahlindustrie in der jetzigen Struktur
ein kaum zu stemmendes Mammutprojekt. Die politische Diskussion darüber,
ob und in welchem Umfang daher staatliche Hilfe sinnvoll ist, ist
richtig. Ein wenig mehr Aufrichtigkeit würde dieser Diskussion
allerdings guttun.
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult.
Foto: StahlmarktConsult, Fotolia